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Wie der
Kadya Chor entstand

von Alan Bern

Die Anfänge des Projekts „Der Kadya Chor“ finden sich in den Kinderlieder-Workshops des Yiddish Summer Weimar (YSW) der Jahre 2015 und 2016. Yiddish Summer ist ein jährlich stattfindendes Sommerinstitut und Festival in Weimar, Deutschland, das sich der kreativen Wiederbelebung der jiddischen Sprache und Kultur widmet. Diana Matut, eine international renommierte Jiddistin und visionäre Pädagogin, schlug mir vor, einen Liederzyklus auf der Grundlage von Kadya Molodowksys Kindergedichten zu schaffen, der im Rahmen des Workshops theatralisch aufgeführt werden sollte.

Kurze Zeit später unterbreitete der Kurator des Yiddish Summer, Andreas Schmitges, den Vorschlag, diesen Liederzyklus zu erweitern und ihn zum Kernstück eines internationalen Jugendchorprojekts zu machen. Wir erfuhren, dass einige von Molodowskys Kindergedichten bereits als hebräische Lieder in Israel bekannt waren und in der Schule gelehrt wurden. Nur wenige Israelis wussten jedoch, dass die Gedichte ursprünglich auf Jiddisch geschrieben worden waren. Dies war der Ausgangspunkt für ein Lernabenteuer in jiddischer Sprache, Kultur und Geschichte, das drei sehr unterschiedliche Mädchenchöre zusammenbringen sollte: Die schola cantorum aus Weimar, den Chor Voices of Peace aus Tel Aviv/Yaffa sowie Kinder der Yiddish Summer Weimar Workshops.

Wie in dem Film „Die jungen Kadyas“ zu sehen ist, teilte Diana Matut die Mädchen aus beiden Chören in kleine Gruppen ein, um gemeinsam über den kulturellen Hintergrund der Gedichte nachzudenken: Was ist die jiddische Sprache? Woher kommt sie? Wie alt ist sie?  Wer hat sie gesprochen? Wird sie heute noch gesprochen? Wer war Kadya Molodowksy und warum hat sie diese Gedichte geschrieben? Um die Gedichte verstehen zu lernen, war die Zusammenarbeit zwischen den israelischen und deutschen Mädchen unerlässlich. Ursprünglich ist Jiddisch zum größten Teil eine germanische Sprache, die mit hebräischen Buchstaben geschrieben wird. So konnten die israelischen Mädchen zwar die jiddische Schrift weitgehend lesen, die Texte selbst aber nicht verstehen. Die deutschen Mädchen hingegen konnten zwar viel gesprochenes Jiddisch verstehen, aber nicht lesen. Um Molodowskys jiddische Gedichte zu entziffern, brauchte jede Gruppe das Wissen der jeweils anderen.

Abgesehen davon, dass es sich um Mädchenchöre im Teenageralter handelt, hätten der Voices of Peace Choir unter Leitung von Yair Dalal und Shireen Daniel und die schola cantorum unter der Leitung von Cordula Fischer kaum unterschiedlicher sein können. Die schola cantorum knüpft an die große deutsche Tradition der Jugendchöre an: diszipliniert, mehrstimmig und auf Phrasierung, stimmliche Qualität, Ensemble und Interpretation bedacht. Der Chor Voices of Peace war schon immer ein interkulturelles Projekt, das Mädchen aus den verschiedenen Bevölkerungs-gruppen Israels zusammenbringt: aschkenasische und mizrachische Jüdinnen, christliche und muslimische Araberinnen, säkulare Jugendliche und andere mehr. Wie der Name schon sagt, besteht die Aufgabe des Chors darin, seine jungen Sängerinnen im Geiste der Freude und des Friedens durch gemeinsames Singen zu vereinen und der Welt zu zeigen, dass so etwas möglich ist. Die Mädchen singen in Hebräisch, Arabisch und anderen Sprachen, proben in einer entspannten und geselligen Atmosphäre, und ihr Repertoire spiegelt sowohl die Melodien des Nahen Ostens als auch den Klang zeitgenössischer populärer Musik wider. Der Kadya-Chor hat sich zum Ziel gesetzt, diese beiden sehr unterschiedlichen Chöre zu einem einzigartigen, neuen Chor zu verschmelzen, der durch die vielen Unterschiede in seiner Zusammensetzung eher gestärkt als geschwächt wird.

Der Film Die jungen Kadyas dokumentiert die Freuden und Mühen dieses Unterfangens. Als Komponist der Lieder habe ich versucht, Musik zu schaffen, die die Herzen und Gedanken der Mädchen beider Chöre anspricht. Sie sollte so einfach sein, dass sie hauptsächlich nach Gehör gelernt werden kann, aber auch so anspruchsvoll, dass sie geprobt und interpretiert werden muss. Genauso wie Kadya Molodowskys Kindergedichte nie zu ihrem Publikum „herunterreden“, versuchte ich, Musik zu komponieren, die einfach, aber niemals simpel ist, Musik, die die Zuhörer unabhängig von ihrem Alter berühren würde. Ich hatte das Gefühl, dass die Lieder, wenn es mir gelänge, eine vitale, unerschöpfliche Quelle der Energie und Inspiration für ein Projekt darstellen würden, das in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung darstellte. 

Was ist geblieben fünf Jahre nach der Gründung des Kadya-Chores, nach Konzerten in Israel und Thüringen? Aus den Mädchen sind junge Frauen geworden, die ihr Leben in verschiedenen Ländern der Welt verbringen. Viele der internationalen Freundschaften, die im Kadya-Chor entstanden sind, halten auch heute noch an. Während einer Onlinevorführung des Films The Young Kadyas im Jahr 2021 sprachen einige der jungen Frauen von dem Projekt als einem lebensverändernden Ereignis, das sie im Laufe der Zeit und - tragischerweise - angesichts der zunehmenden Konflikte in der Welt immer mehr zu schätzen gelernt haben. Ich hoffe, dass die Lieder, die ich für sie komponiert habe, als sie noch Mädchen waren, helfen werden, die Erinnerungen an diese Erfahrungen für den Rest ihres Lebens zu bewahren. Mögen auch andere Freude und Inspiration durch den Kadya-Chor und in dieser Musik finden.

Sand

Alan Bern

Berlin, 22. August 2022

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